Verhungern lassen ist keine Option!

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Winterfütterungen beim Rotwild dienen nicht nur der Vermeidung von Wildschäden, sondern sind auch tierschutzrechtlich relevant. Mit freundlicher Genehmigung des Jagdmagazins WEIDWERK findet Ihr beiliegend den Text von Dr. Miroslav Vodnansky und die dazugehörenden Bilder von Christoph Burgstaller.

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JAGAHANS

Verhungern lassen ist keine Option!

Die unlängst medial verbreiteten Bilder von erschöpftem und verendetem Rotwild haben wieder einmal deutlich gezeigt, dass die Winterfütterung nicht ausschließlich der Vermeidung von Wildschäden dient, sondern sehr wohl auch tierschutzethisch relevant ist.

Es wurde durch verschiedene wissenschaftliche Studien eindeutig nachgewiesen, dass der Nahrungsbedarf des Rotwildes im Winter im Vergleich zu anderen Jahreszeiten wesentlich herabgesetzt ist. Damit zeigt sich, wie hervorragend diese Wildart an die saisonale Verschlechterung des natürlichen Äsungsangebots angepasst ist. Es ist tatsächlich sehr beeindruckend, wie effizient der Organismus des Rotwildes während des Winters durch gleichzeitige Wirkung mehrerer physiologischer Anpassungsmechanismen auf eine maximal mögliche Energieeinsparung unter den jahreszeitlich bedingten ungünstigen Nahrungs- und Wetterbedingungen eingestellt ist.

In erster Linie werden im Winter die Wärmeverluste des Organismus durch das lange und dichte Winterhaar auch bei sehr niedrigen Lufttemperaturen wirkungsvoll verhindert. Die Winterdecke des Rotwildes besteht zum einen aus langen, starken Deckhaaren (Leit- und Grannenhaare) und zum anderen aus einem sehr dichten Unterwuchs kürzerer filzartiger Wollhaare. Die Deckhaare sind im Winter wesentlich länger und im Durchmesser vielfach stärker (voluminöser) als im Sommer. Der hervorragende Kälteschutz des Winterhaarkleides ist aber nicht nur durch die Dichte, Länge und das Volumen der Winterhaare, sondern auch durch ihre spezielle Bauweise gegeben: Die einzelnen Deckhaare bestehen aus Oberhaut, Rinde und Mark. Der wesentliche Teil ihres Querschnitts entfällt dabei auf das Haarmark, das von zahlreichen lufthaltigen Zellen durchsetzt ist. Die in dem porösen Haarinneren eingeschlossene Luft verfügt dank ihrer sehr geringen Wärmeleitfähigkeit über eine stark isolierende Wirkung. Mit diesen Eigenschaften wirkt das aus Deckhaaren und Unterwolle zusammengesetzte Winterhaarkleid auf ähnliche Weise wie die Kombination einer dicken Daunenjacke mit einem mehrschichtigen Lodenfleece. Wie hocheffizient die Winterdecke die Wärmeverluste verhindert, lässt sich daran erkennen, dass auf den Körper des Rotwildes gefallener Schnee nicht schmilzt. So kann das in Ruhe verharrende Rotwild bei starkem Schneefall beinahe völlig eingeschneit werden. Der Schnee bleibt solange auf ihm liegen, bis er bei Bewegung abgeschüttelt wird.

Energiesparmodus

Sehr viel Energie spart das Rotwild im Winter durch die Verringerung der Bewegungsaktivität. Das setzt aber voraus, dass es in seinen Einständen auch die nötige Ruhe hat. Ist das Rotwild ungestört, reduziert sich dessen gesamter Stoffwechsel deutlich. So ist sein Energiegrundumsatz (Energieverbrauch im maximalen Ruhezustand) im Winter geringer als in anderen Jahreszeiten. Das trifft aber nur dann zu, wenn sich der Organismus im Ruhemodus befindet. Wird dieser physiologische Energiesparmechanismus durch Beunruhigung aufgehoben, steigt der Energieumsatz infolge der Ankurbelung des Stoffwechsels stark an. Dabei ist besonders gravierend, dass selbst kurzfristige Störungen länger andauernde Nachwirkungen auslösen. Denn auch nachdem sich das Rotwild scheinbar wieder in Ruhe befindet, dauert es noch eine gewisse Zeit, bis sich sein Organismus gänzlich in den Ruhemodus zurückversetzt. Deshalb ist es immens wichtig, auch der Öffentlichkeit verständlich zu machen, dass in den Wintereinständen jede Beunruhigung vermieden werden muss! Das eben mit dem Hinweis, dass sogar scheinbar kurze Störungen eine länger andauernde Wirkung auf die Wildtiere haben, denn dessen sind sich die meisten Menschen nicht bewusst.

Winterfütterung ja oder nein?

Die ausgeprägte Fähigkeit des Rotwildes zu Energieeinsparungen bei ungünstigen Nahrungs- und Wetterbedingungen dient nicht selten als Argument gegen die Winterfütterung. Diese wird von einigen als Maßnahme bezeichnet, die den normalen Abläufen in der Natur entgegenstehe oder diese sogar aushebeln könne. Das geht wiederum von der Annahme aus, dass der natürliche Verlauf der physiologischen Anpassungsprozesse im Organismus des Rotwildes durch die „künstlich“ verbesserte Nahrungssituation beeinträchtigt werden könnte. Mitunter wird manchmal sogar bezweifelt, dass das Rotwild während der Winterperiode Nahrung mit höherem Nährstoffgehalt – im Vergleich zur vermeintlich kargen winterlichen Naturäsung – überhaupt richtig verdauen könne. Folglich wird daraus abgeleitet, dass eine allfällige Winterfütterung, sofern diese überhaupt durchgeführt werden soll, lediglich auf die Vorlage von Heu (Raufutter) beschränkt bleiben müsse. Solche Behauptungen beruhen jedoch auf einem falschen Verständnis wissenschaftlicher Erkenntnisse, die auf diese Weise aus dem Kontext gerissen werden.

Biologischer Rhythmus

Die jahreszeitliche Anpassung des Rotwildes erfolgt in einem durch Evolution entstandenen biologischen Rhythmus, der von der sogenannten „inneren Uhr“ seines Organismus gesteuert wird. Der Zeitgeber für diese innere Uhr ist die Tageslänge (Dauer der Lichtphase eines Tages). Die Verfügbarkeit der Nahrung und ihre Zusammensetzung spielen dabei hingegen keine Rolle. Deshalb verringert das Rotwild im Winter, entsprechend seinem biologischen Rhythmus, die Nahrungsaufnahme auch dann, wenn es ausreichend Äsung zur Verfügung hat. Das zeigte sich eindeutig in unseren Untersuchungen, in denen beim Rotwild über mehrere Jahre unter verschiedenen Nahrungsbedingungen bei Vorlage diverser Futtermittel sowohl die tägliche Nahrungsaufnahme als auch die Verdaulichkeit der aufgenommenen Nahrung ermittelt wurden. Diese mehrjährigen Studien brachten übereinstimmende Ergebnisse. Unabhängig davon, wie und mit welchem Futter das Rotwild gefüttert wurde, ist die Futteraufnahme immer in der gleichen Verlaufskurve im Winter deutlich zurückgegangen und im Frühjahr wieder angestiegen. Bei den Untersuchungen der Verdaulichkeit der aufgenommenen Nahrung wurden hingegen im Jahresverlauf keine Unterschiede der Verdaulichkeitswerte festgestellt, die auf jahreszeitliche Veränderungen bei den physiologischen Abläufen der Verdauung hindeuten würden.

Gärkammer

Die Verdauung der aufgenommenen Nahrung erfolgt beim Rotwild wie bei allen Wiederkäuern hauptsächlich im Pansen und im Netzmagen. Diese beiden Vormägen sind miteinander anatomisch eng verbunden und wirken gemeinsam wie eine große „Gärkammer“, in der die durch das Wiederkäuen gründlich zerkleinerte Nahrung der Verdauungstätigkeit zahlreicher Mikroorganismen ausgesetzt wird. Es handelt sich um mehrere Hundert verschiedene Arten von Bakterien und Protozoen (Einzeller), die für die Verdauung der pflanzlichen Nahrung im Pansen verantwortlich sind. Die Gesamtzahl dieser durch das menschliche Auge nicht sichtbaren Kleinstlebewesen beträgt je nach der Nahrungszusammensetzung etwa 5–20 Mrd. Keime je Gramm Panseninhalt. Bei der mikrobiellen Verdauung wird die Nahrung im Pansen zersetzt und in Substanzen umgewandelt, dieer Organismus des Wiederkäuers in seinem eigenen Stoffwechsel als Nährstoffe nützt. Die Besonderheit der mikrobiellen Verdauung im Pansen der Wiederkäuer ist, dass in ihrem Verlauf von bestimmten Bakterienarten auch jene pflanzlichen Inhaltsstoffe zersetzt und verwertet werden, die Nichtwiederkäuer nur sehr schlecht oder überhaupt nicht verdauen können.

Es handelt sich vor allem um die schwer verdaulichen Strukturstoffe, wie Zellulose und Hemizellulose, Pektine und zum Teil auch Lignin, die als Gerüstsubstanzen pflanzlicher Zellen einen wesentlichen Bestandteil der Nahrung von Pflanzenfressern darstellen. So ist dieser Verdauungsweg über die Mikroorganismen für die Wiederkäuer sehr nützlich und bietet ihnen einen Vorteil gegenüber nichtwiederkäuenden Pflanzenfressern. Bei dem mikrobiellen Nährstoffabbau im Pansen entstehen als Endprodukte bestimmte kurzkettige Fettsäuren, vor allem Essigsäure, Propionsäure und Buttersäure. Diese gelangen über die Pansenwand in den Körper des Wiederkäuers und werden dort in seinem eigenen Stoffwechsel als wichtige Energiequelle genutzt. Ebenfalls wird das in der Nahrung enthaltene Eiweiß größtenteils von den Bakterien über verschiedene Abbaustufen bis zur einfachen Stickstoffverbindung Ammoniak zersetzt. Dieses wird von den Mikroorganismen zur Bildung des mikrobiellen Eiweißes genutzt, das dem Wiederkäuer wiederum zu seiner eigenen Eiweißversorgung dient. So werden etwa 80–90 % von den mit der Nahrung aufgenommenen Nährstoffen bei den Wiederkäuern nicht direkt, sondern über die Pansenmikroorganismen verdaut. Für diese spielt aber die Jahreszeit keine Rolle, da im Pansen über das ganze Jahr weitgehend konstante Bedingungen (kein Licht und gleiche Temperatur)herrschen. Deshalb unterliegen diese Mikroorganismen auch nicht der direkten Wirkung jener Faktoren, die für die saisonale Umstellung des Stoffwechsels ihrer Wirtstiere verantwortlich sind (Lichtintensität und Länge der hellen und dunklen Phasen des Tages).

Keine Fütterung?

Daraus lässt sich folgende Schlussfolgerung ziehen: Die physiologische Anpassung des Rotwildes an den Winter wird durch die Winterfütterung nicht beeinträchtigt. Somit bleibt nur die Frage, ob diese Maßnahme einen Sinn hat und was mit ihr erreicht werden kann. Es wäre viel zu kurz gegriffen, sie pauschal mit dem Argument abzulehnen, dass das an den Winter gut angepasste Rotwild in dieser Jahreszeit keine zusätzliche Futterversorgung benötige. Tatsächlich wäre diese Schalenwildart auch in den heutigen von Menschen vielfach genutzten Lebensräumen fast überall fähig, selbst strenge Winter ohne Winterfütterung zu überstehen, würde man ihr eine freie Auswahl der Überwinterungsstandorte zugestehen und die damit verbundene Gefahr von Wildschäden außer Acht lassen.

Maßnahme gegen Wildschäden

In der Realität hat aber das Rotwild in seinen heutigen, stark vom Menschen beeinflussten Lebensräumen während der Winterperiode keine freie Standortwahl mehr. Im Gegenteil: Oft ist es gezwungen, in jenen Standorten zu verbleiben, die unter „normalen“ Bedingungen aufgrund eines eingeengten und zudem bei Schnee schwer zugänglichen Nahrungsangebots keineswegs als bevorzugte Überwinterungsräume gelten. Unter solchen Voraussetzungen besteht selbst bei einem niedrigen Rotwildbestand ein hohes Risiko für die Entstehung von Wildschäden. Was das faktisch bedeutet, lässt sich anhand einer einfachen Modellrechnung gut veranschaulichen.

Wird beispielsweise nur etwa die Hälfte des täglichen Rotwild-Nahrungsbedarfs im Winter durch den Verbiss und das Schälen forstwirtschaftlich relevanter Bäume gedeckt, ergibt das mindestens 1 kg an verbissenen Baumtrieben und geschälter Baumrinde je

Stück und Tag. Bei einem Rudel von nur zehn Stück Rotwild in einem schadenanfälligen Wintereinstand werden täglich zusammen mindestens 10 kg Baumtriebe und Baumrinde aufgenommen. Bei einem durchschnittlichen Gewicht von 2–5 g je abgebissenem Baumtrieb (je nach Baumart; dieser Wert wurde bei unseren Untersuchungen ermittelt) entspricht dies 2.000–5.000 verbissenen Baumtrieben täglich.

Anhand dieser einfachen Modellrechnung ist schnell klar, dass die Winterfütterung unter Einhaltung bestimmter Grundregeln sehr wohl eine sinnvolle Maßnahme zum Schutz des Waldes bei gleichzeitiger Erhaltung stabiler (nicht überhöhter) und dazu auch jagdlich gut bewirtschaftbarer Rotwildbestände darstellt.

Moralische Verpflichtung

Auch die immer wieder eintretenden Wintereinbrüche mit extremen Schneeverhältnissen, wie zum Beispiel unlängst im Westen und Süden Österreichs, zeigen deutlich, dass die Winterfütterung sehr wohl sinnvoll ist. Sie wird auch von der nicht jagenden Öffentlichkeit größtenteils positiv gesehen und befürwortet. Deshalb soll offen gesagt werden, dass die Vermeidung der Wildschäden nicht der einzige Grund ist, warum man das Rotwild im Winter füttert. Die Jäger sind für das Wild in ihrem Wirkungsbereich verantwortlich, und sie sind auch befugt, es nachhaltig zu nutzen. Das ist das Grundprinzip des Jagdrechts. Daraus ergibt sich für die Jäger aber auch die moralische Verpflichtung, dem Wild in schwierigen Situationen beizustehen.

Fazit

In Engpässen sollte dem Wild geholfen werden, um es dann später, zur richtigen Zeit, entsprechend zu „ernten“. Es entspricht jedenfalls dem Verständnis der zeitgemäßen Jagd, das Wild vernünftig zu bewirtschaften, anstatt es lediglich zu „regulieren“ und in extremen Situationen dem Hunger und der Erschöpfung zu überlassen. In diesem Sinne steht die Winterfütterung auch im Einklang mit den Grundsätzen der Tierschutzethik!

 Mit freundlicher Genehmigung des Jagdmagazins WEIDWERK

Quellen:

veröffentlicht auf https://www.weidwerk.at

Bilder: Fotos WEIDWERK/Burgstaller

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